Zorn und Zärtlichkeit by Peter Gerdes

Zorn und Zärtlichkeit by Peter Gerdes

Autor:Peter Gerdes [Gerdes, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-86412-147-0
Herausgeber: Leda-Verlag
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00


28.

»Zwei Meter fünfzig? Aber gerne, Frau Udenhoff, sofort!« Erika griff nach dem flachen Stoffballen und wirbelte ihn herum, sammelte das abgerollte Leinen geschickt in großen Falten über dem Arm, damit es nicht auf den Boden rutschte, nahm den hölzernen Maßstock und übertrug die verlangte Menge, markierte die abgemessenen Meter mit dünnen Strichen Schneiderkreide. Nicht zu knapp, so dass die Kundin zufrieden lächelte, aber auch nicht zu großzügig, damit die Chefin ihr nachher keine Vorwürfe machte. Dann legte sie die eiserne Schiene rechtwinklig über den Stoff, setzte die schwarze Schere an, schnitt einmal kurz ein und ließ das schwere Instrument dann zügig durch den Stoff gleiten, ohne die Klingen noch einmal zusammenzudrücken. Es surrte hell, als der Stoff entlang des Webfadens zertrennt wurde, ohne dass es Zacken oder Fusseln gab. Frau Weber, Erste Verkäuferin und mit Erikas Ausbildung betraut, die sie ständig beobachtete, nickte zufrieden. Erika strahlte, faltete den Stoff zusammen und trug ihn zur Kasse.

Ihre Ausbildung ließ sich wirklich gut an. Verkäuferin in einem Textilgeschäft – das war zwar nicht ihr Traumberuf gewesen. Aber andererseits, Träume waren eben Träume, und das Leben war eine ganz andere Sache. Wenigstens hatten ihre Eltern den Widerstand dagegen aufgegeben, sie nach Leer ziehen zu lassen. Und das allein war schon ein Wert an sich. Unglaublich, was diese wenigen Kilometer Distanz für einen Unterschied an Freiheit ausmachten! Dass die Ems zwischen Jemgum und Leer floss, kam noch hinzu. Zwar pendelten viele Arbeiter regelmäßig mit der Fähre, aber für ein junges Mädchen war es doch unzumutbar, den Fluss morgens und abends zu überqueren, und das sechsmal die Woche – davon hatte Erika jedenfalls ihre Mutter überzeugt. Welch ein Segen, dass diese neue Brücke noch nicht fertig war!

Natürlich war Leer nicht Hamburg, die Elbmetropole, die nach den Erzählungen ihres Vaters ein unglaublicher Moloch sein musste, aber im Vergleich zu Jemgum war das Leben hier doch viel spannender. Mehr Trubel, mehr Verkehr, mehr fremde Gesichter, mehr Hochdeutsch. Hier galt es als normal, jeden Tag die Zeitung zu lesen und Radio zu hören, hier drehte man sich auf der Straße nicht mehr um, wenn eine glänzende Limousine vorbeirollte. Hier war es … eben einfach städtischer. Erika kam sich vor, als sei sie von einem Tag auf den anderen erst richtig wach geworden. Beziehungsweise erwachsen.

Dabei war sie erst sechzehn Jahre alt, und auch das erst seit knapp zwei Monaten. Aber was hatte sich nicht alles getan seit letztem Jahr! Ihr Schulabschluss, die Lehrstelle, der Umzug in die kleine möblierte Kammer bei der Witwe Kramer, unterm Dach ihres kleinen Hauses in der Heisfelder Straße, nicht weit weg von dem Geschäft in der Adolf-Hitler-Straße, in dem sie arbeitete. Die vielen neuen Erfahrungen, die sie bei der Arbeit machte, das Lob, das sie bekam, die Bestätigung, die sie erfuhr. Diese plötzliche Selbstständigkeit!

Sicher, auch Selbstständigkeit war relativ. Im ersten Lehrjahr verdiente sie ganze zwanzig Mark im Monat, das reichte nicht einmal für Unterkunft und Verpflegung; vorerst war sie also auf finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, die zudem noch Kindergeld für sie kassierten. Im zweiten



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